Tante Emma 2.0 dank Psychografischem Targeting
Psychologische Insights als Verständnis-Schlüssel für Big Data. So wird Relevanz und authentische Personalisierung im Online Marketing möglich.
Stellen Sie sich einmal die folgende Szene vor: In abendlich-romantischer Atmosphäre packt eine Frau in voller Vorfreude das Geburtstagsgeschenk ihres Mannes aus. Vorfreude schlägt aber schnell in Ernüchterung um, denn mit diesem Geschenk weiß seine Liebste rein gar nichts anzufangen. Aufgestauter Frust entlädt sich und Sie wirft ihm vor: „Du kennst mich ja gar nicht“ – doch ihr Mann ist sich keiner Schuld bewusst: „Aber Schatz, natürlich kenne ich dich. Ich weiß, dass du mit 92% Wahrscheinlichkeit weiblich bist, dass du in die Altersklasse 35-45 Jahre fällst, dass du verheiratet bist, dass du keine Kinder hast, dass dein Brutto-Monatseinkommen zwischen 2500€ und 3500€ liegt und, dass du bei uns die Einkäufe im Haushalt machst. Ich kenne deinen höchsten Bildungsabschluss, deinen Beruf und deine Anschrift. Und deine E-Mail-Adresse. …Ach, ist die eigentlich noch aktuell?“
Wie sich Online Marketing heutzutage anfühlt
Was als fiktive Szene sehr merkwürdig und fremd wirkt, beschreibt doch sehr treffend, wie sich Online Marketing heutzutage für uns User anfühlt. Unser Surf-Vergnügen wird gestört durch Werbebanner, die sich nur mühsam wegklicken lassen und in den seltensten Fällen für uns relevant sind. Wir sehen gesponserte Posts, für die wir uns nicht interessieren, sofern wir sie – Bannerblindness sei Dank – überhaupt sehen. Wir ärgern uns, dass der Produkt-Gutschein erst nach dem Check-Out beworben wird und leiden im Anschluss wochenlang unter Retargeting für Produkte, die wir längst gekauft haben. Uns werden also Geschenke gemacht, die wir nun wirklich nicht wollen und allzu oft gar nicht zu uns passen. Doch genau das ist die logische Folge, wenn Kampagnen-Verantwortliche von einem so begrenzten Informationsstand über ihre potenziellen Kunden ausgehen müssen.
Der Kern des Targetings besteht in hohem Maße aus einer Kopplung von soziodemographischen Ähnlichkeitsmerkmalen mit beobachtbarem Verhalten. Auf Basis von Geschlecht, Alter, Einkommen, Familienstand, Beruf, Wohnort und weiteren geografischen oder soziodemographischen Merkmalen erfolgt eine rein deskriptive Verhaltensbeschreibung, verbunden mit der Suche nach statistisch überzufälligem Verhalten. Kunden, die dies kauften, kauften auch das…
Diese beobachtbaren Eigenschaften und Größen akzeptiert die Marketingpraxis dann als beschreibend für die Person. Frauen zwischen 35 und 45 mit einem bestimmten Einkommen in einem zwei Personen-Haushalt in Großstädten sind – nach dieser Denkweise – alle absolut gleich. Und es geht noch weiter: Wir nutzen diese Größen um daraus abzuleiten, wie diese Person ist.
In der Praxis bedeutet das: Alle hoch vermögenden Briten in der Alterklasse 65+ bekommen identische Produktvorschläge. Wachsjacken für den gesetzten Briten, der sonntags mit dem Rover auf die Jagd in die Highlands fährt. Klingt logisch und gut beschrieben, oder?
Glauben Sie aber, dass sich Prinz Charles und Ozzy Osbourne über die gleichen Geschenke freuen würden? Diese Beiden erfüllen exakt dieselben soziodemographischen Eigenschaften. Selbst die bevorzugten Urlaubsziele sind identisch. Soziodemographie oder „Soziodemographie +“ mit Wissen zu Lebensweisen und Präferenzen ist eben keine valide Möglichkeit, um zu beschreiben, wie jemand ist, was er oder sie denkt oder wie er am liebsten angesprochen wird!
Die gängige Marketing-Praxis hält zwei sechsunddreißigjährige Frauen aus Hamburg Altona mit ähnlichem Einkommen, die sich in ihrer Persönlichkeit alles andere als ähnlich sind, für völlig identisch. Die gängigen Targeting-Mechanismen gehen genau davon aus und liefern jeweils die selbe Werbung aus. Jeder gut geschulte Verkäufer in einem Autohaus oder Bekleidungsgeschäft weiß intuitiv, dass Alter, Geschlecht oder Einkommen aber nicht die wichtigsten Faktoren sind, um zu entscheiden, ob, wann und wie ein neuer Kunde anzusprechen ist. Viel Kommunikation, wenig Kommunikation, eher Rational oder Emotional? All das sieht der gute Verkäufer seinem Kunden „an der Nasenspitze an“ und schließt es aus vielen anderen Faktoren, wie Körpersprache, Reaktionen und Auftreten. All das lässt sich aus der Soziodemographie aber nicht ableiten. Die Frage ist, wie man dieses „Verkäufer-Wissen“ in die digitale Welt transportiert.
Personalisierung braucht mehr als Data Science – in Menschen und nicht in Daten denken
In einer hochdigitalisierten und hochvernetzten Welt fehlen dem Online Marketing gewiss keine Daten, vielmehr fehlt die Relevanz. Zwar sind wir der Hüter von Big Data, aber ein Wissen, welche Daten und Zusammenhänge tatsächlich etwas über die Persönlichkeit des Kunden aussagen können, ist rar. Gelingt es, genau diese Insights herauszufiltern, schafft das Online Marketing wahrhafte Relevanz und Personalisierung in der Kommunikation. Denn, obwohl „Personalization“ Jahr für Jahr wieder das Buzzword auf großen Marketing Konferenzen war, fühlt sich die „Personalisierung des Internets“ noch überhaupt nicht persönlich an. Denken Sie an unser Ehepaar aus der einleitenden Szene, oder aber an die Anzeigen, die Ihnen Tag für Tag auf den Bildschirm gezaubert werden. Dass es der Personalisierung an Persönlichkeit fehlt, wird auch Programmatic Advertising nicht verändern. Die programmatische Herangehensweise bahnt einen revolutionären Weg in der Echtzeit-Datenanalyse und in der Mechanik der datengetriebenen Kampagnenaussteuerung. Doch trotzdem wird diese Methodik keine authentische Personalisierung schaffen und beim „one-size-fits-all“ Marketing mit Schrotflinten-Präzision bleiben, solange nicht ein Schritt zurück - zum Menschen - erfolgt. Statt einer Analyse immer höherer Ebenen von Metadaten, bedarf es einer Besinnung zurück zu dem, was diesen Metadaten zugrunde liegt: der Mensch. Daten sind von Menschen gemacht, deshalb sollten wir damit anfangen, vom Menschen aus zu denken und nach den menschlichen Mustern zu suchen.
Es bedarf einer Humanisierung des Online Marketings
Ziel muss es sein, den Menschen hinter dem Userprofil zu verstehen. Im zweiten Schritt lassen sich kommunikative Botschaften dann individuell auf verschiedene Typen maßschneidern. Dieser Grundgedanke ist keineswegs neu, wurde bislang aber schlicht zu oberflächlich umgesetzt. An Stelle eines rein vergangenheitsbezogenen Verständnisses und der Grundannahme, dass vergangenes Verhalten uneingeschränkte Vorhersagekraft für zukünftiges Verhalten besitzt, sollten situative Faktoren in den Vordergrund rücken – also der Kontext, die Intention und das Mindset des Users. Vor allem aber, sollten wir uns die richtigen Fragen stellen: 1. Was für eine Persönlichkeit habe ich vor mir? Und 2. Wie stehen wir zueinander? Mit der Beantwortung dieser zwei Fragen beschreiben wir den Kern jeder sozialen Interaktion und jeder sozialen Beziehung – also auch der Kundenbeziehung. Ganz einfach gesagt: Mit meinen Kindern spreche ich anders als mit meinem Ehepartner, mit meinem Ehepartner anders als mit meinem Chef und mit meinem Chef anders als mit meinen Freunden im Stadion. Aus einer Marketing-Perspektive heraus gedacht, beschreiben wir damit nichts Anderes, als zielgruppengerechte Kommunikation auf dem personenindividuellsten Level. Erst diese Art von personenindividueller Kommunikation schafft Relevanz und authentische Personalisierung. Wie sollen wir aber die Intention und das Mindset des Users beschreiben? Wie finden wir heraus, wen wir vor uns haben? Die Psychologie stellt hierfür schon seit Jahrzehnten Modelle bereit, um situatives Verhalten und Intentionen des Menschen (und damit des Users) auf zeitstabile Klammern zu schreiben, welche als Psychografie bezeichnet werden. Wie differentialpsychologische Basisforschung zeigt, liefert die Psychografie einer Person nicht nur eine verhaltenserklärende Basis, sondern auch situationsübergreifende Vorhersagekraft für individuelle Verhaltenstendenzen. Dieses Wissen machen sich beispielsweise HR-Abteilungen im Einstellungsprozess schon sehr lange zu Nutze, indem sie Kandidaten durch Persönlichkeitstests auf zukünftigen Berufserfolg hin untersuchen. Ein detailliertes psychografisches Profil bietet dabei deutlich mehr Indikatoren als nur die Werteorientierung oder Lebensphasen einer Person, die eher soziografischen statt psychografischen Charakter besitzen. Schließlich käme kein Unternehmen auf die Idee, in einer Stellenanzeige eine Person zwischen 25 und 35 mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 3000 bis 4000€ und einem Fahrzeug im Haushalt zu suchen. Im Marketing tun wir genau das und akzeptieren es auch noch als relevante Beschreibungsmerkmale. Gängige Konsumententypologien greifen an dieser Stelle häufig zu kurz und schöpfen das Potenzial psychografischer Profile gar nicht oder nur unzureichend aus.
Psychologische Basisforschung macht Menschen verstehbar
Die psychologische Basisforschung bietet drei Grundmuster, um das Verhalten von Personen valide zu klassifizieren und vorherzusagen: 1. Basismotive, 2. Einstellungen und 3. die Persönlichkeit.
1. Die Basismotive können als Triebfeder einer Person verstanden werden. Motive stellen stabile Muster in der emotionalen Bewertung von Situationen dar und steuern auf diese Art, zu welchen Dingen und Situationen sich eine Person hingezogen fühlt. Damit werden die Motive zu stabilen Fixsternen im Leben, denen wir ganz unweigerlich folgen und die handlungstreibenden Charakter besitzen. Es gibt grundsätzlich drei Basismotive – die „Big 3“: Macht (Power), also das Streben danach, Einfluss zu nehmen, Dinge unter Kontrolle zu haben und zu bestimmen. Leistung (Achievement), also das Streben nach Optimierung und dem erreichen hoher Leistungsstandards. Und Anschluss (Affiliation), also das Streben nach gemeinschaftlichen Erlebnissen und danach, Teil einer Gruppe zu sein.
2. Den Basismotiven folgen die Einstellungen einer Person. Vereinfacht gesagt erfasst die Einstellungsebene stabile Muster in der Entscheidungsfindung und wirkt daher wie ein persönlicher Filter, ob und was eine Person für eine Handlung zeigt. Auf der Einstellungsebene gibt es drei stabile Grundmuster: Rationale Einstellungen, also klassischerweise reflektierte Kopf-Entscheidungen – „Ich darf nicht mehr essen, weil meine Kalorien für heute schon verbraucht sind“. Emotionale Einstellungen, also spontane Bauch-Entscheidungen, die ohne gedanklichen Aufwand ablaufen – „Das Leben ist zum genießen da, ich gönne mir das Eis trotzdem“. Und handlungsbezogene Einstellungen, also Routine-Entscheidungen, die automatisiert ablaufen – im Supermarkt beispielsweise der Griff zur immer gleichen Lieblingsmarmelade.
3. Den Einstellungen folgt die Persönlichkeit. Im Gegensatz zu den Motiven und den Einstellungen löst die Persönlichkeit keine Verhaltenstendenzen aus, sondern beschreibt eher Tendenzen im bereits gezeigten Verhalten – also beispielsweise wie eine Person in welchen Umfeldern agiert. Hier gibt es gibt fünf Dimensionen – die „Big 5“: Offenheit (Openness), also das Ausmaß an Aufgeschlossenheit und Interesse für neue Erfahrungen. Gewissenhaftigkeit (Conscientiousness), also die Intensität von Pflichtbewusstsein und Perfektionismus. Extraversion, beschreibt den Grad an Geselligkeit und Expressivität einer Person. Verträglichkeit (Agreeableness), charakterisiert das Maß an Kooperationsbereitschaft und Empathie. Und Neurotizismus (Neuroticism), welcher die emotionale Stabilität einer Person beschreibt.
Tante Emmas Bauchgefühl in Zeiten von Big Data
Was sich nach komplexen wissenschaftlichen Parametern anhört, ist nicht viel mehr als das, was Tante Emma in ihrem Krämerladen schon längst wusste. Nämlich, dass sie die redselige Lieschen Müller anders ansprechen sollte als den zurückhaltenden Sparkassen-Direktor Meyer, der seinen Kaffee beim Tagesblatt lieber in Ruhe am Stehtisch genießt. Psychografische Profile schaffen eine Systematisierung von Tante Emmas Bauchgefühl und machen diese feinen individuellen Unterschiede fassbar. Die Möglichkeiten von Big Data heben die Psychografie dabei in einen völlig neuen Kontext. Menschen werden nicht mehr auf Grundlage ihres Kaufverhaltens in Tante Emmas Krämerladen eingeschätzt, sondern basierend auf Cookie- oder anderen Tracking-Daten. Psychografisches Targeting bringt Verhaltensdaten aus dem Netz zusammen mit Bewegungsprofilen von Adserver-Betreibern sowie Paneldaten, also Antworten aus Fragebögen. Das ist zwar eine Mammut-Aufgabe, aber es funktioniert. Auf diese Weise ermöglicht Psychografisches Targeting das Tante-Emma-Gefühl in der Online-Welt, eine Art Tante Emma 2.0. Das Bildnis der Tante Emma ist auch deshalb so passend, weil Psychografisches Targeting eine ganz fundamentale Verpflichtung mit ihr teilt: dem Kunden Wert zu stiften. Dank der psychografischen Mechanik verstehen wir die digitale Körpersprache des Users, können die Abschnitte seiner Entscheidungsfindung nachzeichnen und gezielt reagieren: für welche Person sollten wir in welcher Situation welchen Wert stiften? Auf diese Fragen weiß auch Tante Emma längst Antworten und versteht anhand der Körpersprache treffend, dass der gestresste Geschäftsmann auf der Suche nach Batterien eher nicht zu einem geselligen Plausch aufgelegt ist.
Liebe kommt mit der richtigen Message
Im Online Kontext haben wir nun keine Tante Emma mehr persönlich vor uns. Stattdessen sehen wir uns unpersönlichem Display Advertising ausgesetzt. Die Kunst ist es, den Charme von Tante Emma zurück auf das Display zu bringen. Dafür braucht es psychografische Profile einerseits, andererseits aber auch darauf passgenaue Botschaften. Natürlich und richtig wird es sich für den User erst dann anfühlen, wenn Bild- und Feature-Kommunikation seiner Welt entsprechen – also seinen Lebensumwelten und seinem Wording folgen. Notwendig werden deshalb ein ganzheitliches psychografisches Prozessverständnis und eine frühzeitige Einbindung der Kreation in die Kampagnenstrategie. Denn eine psychografische Aussteuerung beliebiger Motive macht genau so wenig Sinn, wie die Suche nach liebevollen Geschenken auf Basis soziodemographischer Daten – wie die einleitende Szene anschaulich verdeutlicht. Wenn aber die richtige Message, in der richtigen Situation, in der richtigen Tonalität auf das richtige psychografische Profil trifft, stehen die Chancen auf eine wertstiftende Kommunikation, wahrgenommene Sympathie und ehrliche Markenliebe im Online Marketing hoch wie nie. Denn damit signalisieren wir dem User: wir kennen und verstehen dich. „Wir wissen, dass du es dir lieber mit deiner Lieblingsserie auf dem Sofa bequem machst, als rauszugehen und im Trendclub abzufeiern. Wir wissen, dass in dir das Herz eines Spielkindes schlägt, was immer die neuste Technik ausprobieren will, einfach, um sie mal ausprobiert zu haben. Wir wissen, dass du keine Chance auslässt, um dir selbst zu beweisen, dass du es besser kannst. Dabei aber ein schlechter Verlierer bist – und ein schlechter Gewinner. Und weißt du was? Das ist auch gut so.“ Eine so persönliche Liebeserklärung rettet notfalls auch das miserabelste Geschenk, oder? Auf das Verständnis füreinander kommt es an. In einer Paarbeziehung – und in der Kundenbeziehung.
Steffen Völker, Prof. Dr. Joost van Treeck
Autoren:
Steffen Völker
Prodekanatsassistenz Psychology School
Hochschule Fresenius · Fachbereich Wirtschaft & Medien,Hamburg
Kontakt: Steffen.Voelker@hs-fresenius.de
Prof. Dr. Joost van Treeck
Studiendekan – Wirtschaftspsychologie M.A.
Hochschule Fresenius · Fachbereich Wirtschaft & Medien,Hamburg
Kontakt: vanTreeck@hs-fresenius.de