Kreative Digitalisierung

Kreative Digitalisierung Eine neue Beziehungsqualität
Eine neue Beziehungsqualität

Eine neue Beziehungsqualität

Bits und Bytes verändern die Gesellschaft und Wirtschaft – und führen auf die digitalen Irrwege der Rationalisierung, der Monopolisierung und des Utopismus. Um diesen Zustand der Verblendung zu verlassen, brauchen wir eine neue digitale Achtsamkeit, einen kreativen Umgang mit Digitalität.

Text: Matthias Horx

Ein Gespenst geht um in Wirtschaft und Gesellschaft. Es raunt auf den Konferenzen, es bringt reihenweise Sonderbeilagen in den Wirtschaftszeitungen hervor, es gebiert ganze Heerscharen von Beratern, die mit den immer gleichen Charts den Unternehmen „Digitalisierung“ verordnen. Die Sprache ist alarmistisch bis euphorisch: Kein Stein bleibt auf dem anderen! Die Möglichkeiten sind grenzenlos! Die vierte industrielle Revolution ist in vollem Gange! Digitale Disruption überall!

Digitalisierung? Wie bitte? Das soll etwas Neues sein? Ist nicht das Digitale längst Alltag, spätestens seit wir Bankgeschäfte im Internet abwickeln und E-Mails unterwegs auf unseren Smartphones lesen? Seit 40 Jahren verändert die Computerisierung Produktions- und Verwaltungsprozesse. Früher hieß das „EDV“, elektronische Datenverarbeitung. Seit 20 Jahren existiert das Internet – und immer noch entdecken Unternehmen Social Media als Werbeplattform: „Man müsste mal was auf Facebook machen ...“

Worum geht es also wirklich in dieser aufgeregten Propaganda eines neuen unerhörten Zeitalters?

Digitale Krise

Wer heute über Digitalisierung spricht, kommt nicht an der Beobachtung vorbei, dass der digitale Wandel mitten in einer Krise steckt – in einer gesellschaftlichen Krise. Die Frontlinie verläuft ausgerechnet dort, wo das Digitale das Alltagsleben am tiefsten verändert hat: in der Kommunikation. „Das Internet ist kaputt“, konstatierte schon 2014 Deutschlands großer Digital-Indianer Sascha Lobo. Damit meinte er die Exzesse von Hass und Niedertracht, die sich in den Untiefen des sozialen Netzes epidemieartig verbreitet hatten.

Einst als Wahrheits-, Demokratie- und Wissensmedium gefeiert, scheint sich „das Netz“ in eine gigantische Black Box verwandelt zu haben, in der Neurosen und Narzissmen, Shitstorms und persönliche Vernichtungsfeldzüge blühen. Zwischen Katzenbildern, Pornos und Unfall-Schadenfreude-Clips wuchern Verschwörungstheorien, Hysterien und Gerüchte. Roland Emmerich, Hollywoods Katastrophen-Regisseur, sagte in einem Interview über das Leben vor 20 Jahren: „Es war noch eine einfachere Welt. Unsere Welt ist irre kompliziert geworden. Ich glaube auch, dass das Internet nicht unbedingt gut für uns ist. Dass jeder sagen kann, was er sagen will, ohne dafür geradestehen zu müssen, weil es ja anonym ist.“ (Emmerich 2016).

Der Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem Schlüsselwerk „Resonanz“ einen Deutungsansatz dafür geliefert, wie und warum das Netz solche zerstörerischen Wirkungen zeigen kann (Rosa 2016). Das soziale Internet, das wir auf dem Smartphone jederzeit und überall mit uns herumtragen, macht süchtig, weil es uns an unserem wundesten Punkt berührt: unserer Angst, nicht gehört zu werden. Es packt Menschen an ihrem emotionalen Grundbedürfnis nach Resonanz – nach einer wirkmächtigen Beziehung zur Welt. Deshalb funktioniert das Netz wie eine gewaltige Echokammer unserer Wünsche, Träume und Gefühle. Es wird zu einem Verstärker der Ängste und Aggressionen, die bislang unbenannt und ungeäußert blieben. Das Internet bildet eine Art Meta-Resonanzmaschine, die alle unterdrückten Gefühle verstärkt, zuspitzt und extremisiert.

Nein, vor uns steht nicht das „Ende des Internets“. Aber die Zeiten der linearen Wachstumsraten und der bedenkenlosen Netzaffinität sind vorüber. Es entwickelt sich eine Gegenbewegung, eine digitale Revision:

  • In den USA sind Anleitungen zum Netzentzug wie „The Digital Diet“ oder „Unplug Every Day“ Millionenbestseller. In allen Medien werden die Folgeschäden der ständigen Erreichbarkeit diskutiert. Apps wie „SelfControl“ limitieren die Online-Zeit beziehungsweise den Zugang zu bestimmten Webseiten.
  • Zum ersten Mal sanken im Jahr 2015 weltweit die Zeiten, die Menschen täglich in den sozialen Netzwerken verbringen (Tuchinsky 2016).
  • Apps verlieren langsam ihren anfänglichen Zauber, nur wenige sind ein kommerzieller Erfolg. Laut Flurry Analytics stagniert die App-Nutzung, die Nutzung von Spiele-Apps war sogar 2015 erstmalig rückläufig. Der Markt ist übersättigt, es werden kaum mehr neue Apps heruntergeladen. Eine Untersuchung von Nomura Research belegt in den USA einen Rückgang der App-Downloads um 20 Prozent innerhalb eines Jahres.
  • Der Verkauf von Tablets ging 2015 weltweit zurück, für 2016 wird laut dem Marktforschungsunternehmen IDC ebenfalls ein Rückgang erwartet. Auch das Lesen von E-Books tendiert laut GfK in Deutschland zur Stagnation.

Die Diagnose ist eindeutig: Die Welle der Digitalisierung ist bereits jenseits ihres Zenits angelangt. Immer mehr Menschen entwickeln eine existenzielle Skepsis gegenüber einem totalitären Anspruch des Digitalen. Und immer mehr Menschen sind auf der Suche nach dem, was wir im „Zukunftsreport 2016“ nur leicht ironisch den „OMline“-Lebensstil genannt haben: eine Balance zwischen digitalen Möglichkeiten und analoger Welt, zwischen Verbundensein und Autonomie, zwischen Vernetzung und Entnetzung.

Dies alles muss man wissen, wenn man das Thema Digitalisierung zu seiner zentralen Strategie erklärt.

Digitalisierung als fade Rationalisierung

Das Versicherungsunternehmen A hat schwierige Zeiten hinter sich. Im Zuge der Bankenkrise sind viele seiner Versicherungsprodukte marode geworden. Der Markt ist überfüllt, die Vertriebskanäle sind verstopft. Folglich müssen massiv Kosten gespart werden. Was tut das Management des Konzerns? Es möchte nicht die öde Botschaft des Kostensparens unter die Mitarbeiter bringen. Aus diesem Grund wird eine große Digitalisierungskampagne gestartet. Als Erstes wird ein Wettbewerb ausgerufen: Außendienstmitarbeiter mit den höchsten Umsätzen bekommen eine exklusive Reise ins Silicon Valley spendiert. Event-Konferenzen sollen den Mitarbeitern „das Thema“ schmackhaft machen. Höhepunkt der Kampagne sind die „Digital Fun Rides“ in einem großen Vergnügungspark. „Die Zukunft ist digital – brechen wir auf!“ lautet der Claim, der von der hauseigenen Werbeagentur gedichtet wurde. Auf der glamourösen Abschluss-Show treten ein Zauberer und ein Motivationstrainer auf, der die Mitarbeiter unter dem Motto DI-GI-TAL-GE-NI-AL zum rhythmischen Klatschen veranlasst.

Allerdings reagieren die Mitarbeiter in Außen- und Innendienst trotz allem Aufwand mit einer Mischung aus Abwehr und Skepsis. Sie spüren, dass ihnen hier unter einer glänzenden Hülle profane Effizienzprozesse verkauft werden. Die Internet-Plattformen, auf denen sie in Zukunft ihre Produkte verkaufen sollen, verbessern weder das Produkt noch das Kundenerleben noch die Beziehungen im Kundenverhältnis. Im Gegenteil: Sie machen viele Abläufe schneller – was eher auf Kosten des Vertrauens geht. Rationalisierungseffekte müssen auf diese Weise von den Mitarbeitern selbst wieder eingeholt werden, durch mehr Arbeit und Eifer. Genau das will das Management – ohne es sich selbst und nach außen einzugestehen.

Der Versicherungskonzern A ist ein Beispiel für das Grundmissverständnis der Digitalisierung – mit einer digitalen Strategie, die auf Dauer scheitern muss. Mitarbeiter werden für mangelnde, echte Innovationen haftbar gemacht. Dem Druck des Marktes wird allein technisch begegnet. Und der Kunde durchschaut den Trick. Er merkt, wenn er plötzlich mit einem Automaten telefonieren soll statt mit realen Mitarbeitern – auch wenn ihm das als „zukunftsweisendes Künstliche-Intelligenz-System“ verkauft wird. Ihm fällt auf, dass er die Formulare jetzt selbst online ausfüllen muss. Er realisiert schnell, wenn er alten Wein in digitalen Schläuchen verkauft bekommt.

Ein ähnliches Phänomen stellt die legendäre „Industrie 4.0“ dar: Ein scheinbar revolutionärer Begriff, der jedoch auf statisch-linearem Denken gründet. Digitale Beschleunigung ist ein anhaltender Prozess seit den Hollerith-Lochkarten in den 1940er Jahren (ein Vorläufer von IBM). Industrie 4.0 soll nun die nächste Stufe meistern: Erneut wird der Produktionsprozess beschleunigt, diesmal aber auch individualisiert und mit dem Back Office in Echtzeit verknüpft. Das ist gut und schön und richtig – aber eigentlich banal.

Entscheidende Fragen werden dabei ignoriert. Ist die „Industrie“ in Zukunft eigentlich noch „industriell“ im Sinne einer zentralen Produktion von Dingen? Die Energiebranche hat erlebt, dass Strom plötzlich durch Millionen Klein-Produktionsstätten erzeugt werden kann – was das Konzept eines zentralen Kraftwerks disruptiert. Was, wenn die kommende Fabrik durch „Fabbing“ ersetzt wird – durch 3-D-Produktionen, die direkt von den Kunden gesteuert werden? Was ist mit den Schnittstellen der Energie, des Recyclings, wenn sich Cradle-to-Cradle-Produktionen durchsetzen? Was, wenn Softwarefirmen Autos produzieren? Wenn neue Lernplattformen Schulen und Universitäten das Wissen und Lernen streitig machen? Oder sogar kollektiv-digitale Systeme das Geld in gewisser Weise überflüssig machen, Stichwort Blockchain?

Die meisten Digitalstrategien sind heute angstgetrieben und defensiv. Sie haben mit der Zukunft nur so viel zu tun, dass sie das Schlimmste – also den Verlust des eigenen Geschäftsmodells – verhindern sollen. Wer vom Verhindern her denkt, denkt jedoch von Problemen aus, nicht von Lösungen. Und erzeugt auf diese Weise das Alte auf nur scheinbar neue Weise.

Was also ist „Digitalisierung“?

  • Eine zunehmende Automatisierung und Beschleunigung von Dienstleistungs- und Produktionsprozessen?
  • Eine generelle Reorganisation von Unternehmensformen und Wertschöpfungsketten im Sinne einer neuen Netzwerkwirtschaft?
  • Das Entstehen neuer digitaler Monopole?
  • Die endgültige Flutung des menschlichen Lebensraums durch den Datenstrom?

Monopolistische Digitalisierung

Apple, Google, Facebook und Amazon wirken heute längst wie große Imperien, wie Monopolisten eines neuen Zeitalters. Dafür gibt es einen Namen: Plattform-Kapitalismus.

The Economist schrieb in seiner Titelstory: „Die neue Tech-Industrie macht ihr Geld, indem sie private Information aufsaugt. ‚Wir wissen, wer Du bist‘, sagt Mr. Schmidt (Executive Chairman von Alphabet). ‚Wir wissen, wo Du warst. Wir können auch ziemlich genau wissen, worüber du nachdenkst!‘“ (übersetzt nach The Economist 2016).

Im digitalen Königreich gewinnen immer diejenigen die Hoheit über die Daten, die bereits die Hoheit haben. Wertschöpfungen entstehen dabei überwiegend auf dem Wege der Abschöpfung. Das Beispiel Uber zeigt, wie man einer vorhandenen analogen Struktur – den Taxis und Mitfahrdiensten – eine digitale Struktur überstülpt, durch die jeder gezwungen ist, zu reagieren. Das wäre, als Innovationsimpuls, gar nicht schlecht. In der monopolisierten Form führt es jedoch zu einer Downgrading-Spirale, die den Individualtransport nicht besser, sondern vor allem billiger gemacht hat. Im Grunde werden nur Kosten und Erlöse verschoben – zugunsten des Daten-Monopolisten. Und alle Marktteilnehmer sind am Ende schlechter gestellt.

The Economist vergleicht die neuen Digital-Monopolisten mit den Eisenbahn-Baronen, die vor einem guten Jahrhundert über die Erschließung der kontinentalen Transportwege neue Monopole schufen. Peter Thiel, einer der Pioniere des Internets, bekannte sich vor Kurzem in seinem Buch „Zero to One“ ganz offen zur neuen Monopol-Wirtschaft des Digitalen: „Wir glauben immer, dass Kapitalismus und Wettbewerb das Gleiche sind. Aber alle gescheiterten Unternehmen sind im Grunde daran gescheitert, dem Wettbewerb zu entkommen.“ (Thiel 2014).

Der Internet-Kritiker Douglas Rushkoff kommentierte dazu in seinem Buch „Throwing Rocks at the Google Bus“: „Vielleicht hätten wir es kommen sehen müssen. Wenn die Gründer von Start-ups eingeladen werden, an der Wall Street die Glocke zu läuten, dann nicht deshalb, weil sie die Wirtschaft disruptiert haben. Sondern weil sie sie fortgeführt haben – zu ungeahnten Höhen.“ (übersetzt nach Rushkoff 2016).

Utopistische (Total-)Digitalisierung

Stell dir ein Haus vor, das deinen Terminplan besser kennt als du.

Ein Büro, das deinen persönlichen Arbeitsstil kennt.

Ein Sicherheitsboden in der Fabrik, der eigenständig einen Sicherheitsstopp auslöst, bevor du verletzt wirst.

Oder eine Dienstleistung der nächsten Generation, die dir im Stadion ein kaltes Bier in die Hand drückt, kurz vor dem Anstoß.

Oder ein Haus, das sich selbst aufschließt, dich willkommen heißt mit dem idealen Licht, der richtigen Temperatur und sogar mit einem Dinner-Vorschlag.

Hier kommt die große Überraschung: Diese Art von Magie liegt direkt vor der Haustür. Indem die vielen Gegenstände des Internet of Things mit kognitiven Systemen zusammenspielen, werden unsere Gebäude zu Assistenten, Anwälten und Lebensrettern. Und wir, die Menschen, arbeiten, spielen und shoppen mit immer größeren Vorteilen. Kognitive Gebäude können uns erfreuen, sie können Alarm auslösen und uns warnen, wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät. Sie können auch unsere Bedürfnisse antizipieren, bevor wir wissen, was wir brauchen. In gewisser Weise werden sie unsere aktiven Partner in allen Lebenslagen. Diese Partnerschaft beginnt jetzt, und eines nicht zu fernen Tages werden wir uns fragen, wie wir ohne all dies auskommen konnten …“

Dieser Text begleitet die neue IBM-Kampagne zum Thema Cognitive Environments – die neueste Variante der radikalen Digitalisierung. IBM springt endgültig auf den hyperutopischen Zug und will uns in ein digitales Schlaraffenland entführen, in dem keine Wünsche mehr offenbleiben. Ein Business-Utopia, das verdächtig der Ray Kurzweil’schen Singularität und obendrein vielen dystopischen Science-Fiction-Filmen ähnelt. Wir störrischen, kaufunwilligen Menschen werden von einer digitalen Sphäre umhüllt, die alle unsere Bedürfnisse bereits im Moment des Denkens erfüllt. Der perfekte Konsument in einem perfekten Datennetz. Die Bildwelt dazu zeigt konsequenterweise prinzessinnenhafte Frauen mit Einkaufstaschen, die auf Bildschirme mit Frauen-Produkten drücken. So wird die ganze Welt ein Einkaufszentrum, eine Convenience-Zone, in der unentwegt die sphärische Musik des Cashflows tönt.

Wenn der alte technische Utopismus die Sprache des Digitalismus annimmt, muss er seinen totalitären Sound gar nicht mehr verbergen. Im Internet of Things, das uns auf den Leib rückt, geht es vor allem um eines: das Gefügigmachen des Kunden gegenüber einer gigantischen Konsumbedarfsökonomie, die Unterwerfung des menschlichen Raums, jener menschlichen Sphäre, die immer auch Störrisches, Widerständiges beinhaltet, durch Seamless Systems.

Es ist zu hoffen und zu erwarten, dass sich dagegen ein Widerstand entwickelt – und sei es nur in Form eines chaotischen Scheiterns an Komplexitätsproblemen, wie es uns die meisten Smart Systems im Hausbereich heute schon vormachen.

Digitale Achtsamkeit

Wir können und sollten Digitalisierung anders denken: nicht als (ausschließlich) technischen Prozess. Sondern als einen Dialog des Technischen mit dem Humanen – im Sinne des Kreativen. Die befreite, „erleuchtete“ Digitalisierung der Zukunft versteht die Technologie vernetzter Computer als einen Möglichkeitsraum für kundenzentrierte und ganzheitliche Innovation. Sie definiert im Verhältnis Kunde – Prozess – Technologie einen neuen Omega-Punkt. Und erzeugt dadurch neuen Nutzen und Sinn im Verhältnis von Kunden zu Produkten und von Prozessen zur Umwelt: zum Markt, zur Gesellschaft.

Das Zeichen Omega steht in der Physik für den Raumwinkel, in der Wahrscheinlichkeitsrechnung für die Ergebnismenge. Omega misst sozusagen die Wahrscheinlichkeit für einen zukünftigen echten Komplexitätsgewinn. In Teilhard de Chardins Zukunfts-Eschatologie steht Omega für den Punkt der zukünftigen Konversion des Göttlichen mit der Liebe und den Menschen. Das klingt kitschig, aber im Sinne einer lebenswerten Zukunft ist etwas dran. Digitalität erzeugt Verbindungen, die Menschen, Märkte und Dinge in Beziehung bringt. Damit kann eine höhere Integration unseres Lebens entstehen.

Das Ganze funktioniert aber nur dann im Sinne der Zukunft, wenn außer dem Cashflow noch etwas anderes gemeint ist. „Kreative Digitalisierung“ bedeutet, dass einem gewachsenen System nicht etwas entzogen oder dass es lediglich beschleunigt wird. Vielmehr wird eine Dimension hinzugefügt. Das kann einen Aspekt der „Erreichbarkeit“ und Verfügbarkeit betreffen oder auch die ganzheitliche, systemisch-ökologische Qualität eines Produktes. In jedem Fall geht es darum, die Welt aus der Sicht des Kunden neu zu sehen. Aus Produkten entstehen so Nutzungen und aus Vernetzungen werden Beziehungen.

Hier einige „realdigitale“ Beispiele:

  • Everlane: Das ist zwar ein Online-Shop für Bekleidung, aber jedes Kleidungsstück ist vollkommen transparent, was seine energetische und stoffliche Produktion betrifft.
    www.everlane.com
  • Slate: Das New Yorker Start-up im Bereich Home Cleaning revolutionierte zunächst die Servicequalität von Reinigung und Putzdiensten im Sinne eines völlig neuen Komforterlebnisses. Bei Slate werden Kleider, Anzüge und Hemden diskret von zu Hause abgeholt und nach der Reinigung wieder gebracht, dabei werden Betten gemacht, es wird geputzt und „nach dem Rechten“ gesehen. Das System nennt sich „Live-in-Maid“. Die Idee ist es, Hotelkomfort zu Hause zu bieten – ohne die hohen Kosten. Erst als diese integrierte Dienstleistung funktionierte, etablierte Slate darauf ein Internet-Kundensystem, um seine Dienstleistung mit dem Kunden zu vernetzen. Slate sieht sich als ein „Anti-Uber-Modell“. Während Uber vorhandene Services „von oben“ mit purer Digitalmacht erobert, ohne eine echte neue Qualität hinzuzufügen, lebt das kreativ-digitale Modell von der Innovation in der realen Welt. Digitale Technologie wird als Evolutionstreiber genutzt, um die Effizienz jedes einzelnen Schrittes und das Zusammenspiel der Elemente einer Dienstleistung neu zu gestalten, ohne dass die einzelnen Elemente – zum Beispiel Mitarbeiter und Kunden – davon einen Nachteil haben.
    www.slatenyc.com
  • Mud Jeans: Wie wäre es, wenn man eine online bestellte, ökologisch-biologische Designer-Jeans nach Hause geliefert bekäme, die sich dann, wenn sie verbraucht und zerschlissen ist, wieder vollbiologisch recyceln lässt? Und wenn man eine Jeans, die ein klassischer Nutzungsgegenstand ist, leasen könnte? Genau das bietet das niederländische Unternehmen Mud Jeans an. Eine Jeans kann dort ab 7,50 Euro im Monat geliehen werden. Nach einem Jahr geht sie entweder in den privaten Besitz über oder sie wird zurückgeschickt und „neu geboren“. Eine sinnvolle Symbiose aus Sharing Economy, Neo-Ökologie und Smart Services. Aus solchem Stoff ist die wahre digitale Zukunft gemacht.
    www.mudjeans.eu
  • Sama: Das ist eine Nonprofit-Plattform, die die Ärmsten der Armen in den Slums von Indien, Kenia oder Haiti mit Arbeit versorgt, indem sie elektronische Jobs vermittelt, die auch vollkommen online erledigt werden können – etwa das Taggen von Bildern bei Getty Images.
    www.samagroup.co

Es gibt unzählige solcher erleuchteter Web-Projekte, kreative Start-ups, die eben mehr darstellen als digitale Rationalisierungen. In ihnen verbinden sich analoge und digitale Welten zu Symbiosen, mit denen nicht nur die „Convenience“, sondern eine ganzheitliche Lebensqualität gesteigert wird. Sie dienen realen menschlichen Interessen – nicht Rationalisierungszwecken.

Kreativ erleuchtete Digitalisierung schafft Resonanzräume, in denen Menschen ihre Interessen neu erfahren und koordinieren können. Sie erlöst Komplexität – allerdings nicht, indem sie, wie die Fantasie vom vollautomatischen Leben, Komplexität zugunsten eines Verlustes an Autonomie auflöst. Positive Digitalisierung kann Räume schaffen, in denen bisher Getrenntes in Verbindung treten kann. Dabei spielen menschliche Kommunikation und Entscheidungen, nicht Maschinenkommunikation, die Hauptrolle.

Menschen sind nicht digital. Wir sind und bleiben Wesen aus Fleisch und Blut, die sich in der analogen Welt, im Sinnlichen, orientieren. Die digitale Evolution wird nur dann nicht ins Desaster führen, wenn sie sich rückkoppelt mit dem genuin Humanen, dem Maßvoll-Menschlichen. Es geht also auch, wenn nicht vor allem, um soziale Fragen: Fragen der Ermächtigung und Erleichterung, des Zugangs und des freien Willens, der äußeren Verbesserung und der inneren Erhellung. Dabei kann digitale Technik wunderbare Hilfe leisten. Wenn sie aber als Selbstzweck, als reines Optimierungsinstrument missbraucht wird, muss und wird sie scheitern.

Vergessen wir die Digitalisierung! Wenden wir uns dem Wesentlichen zu! Und nutzen wir dabei den Segen digitaler Technik auf kreative Weise!

Auszug aus Studio „Digitale Erleuchtung“, mit freundlicher Genehmigung des Zukunftsinstituts